Warum muss man darüber berichten?
Anfassen kann jeder – Berühren ist eine Kunst! Die wichtigsten Kriterien für den Kontakt mit komplexen beeinträchtigten Menschen:
Für uns wird Berührung meist erst dann zum Thema, wenn es besonders ist: sich seinem Schwarm nähern, die Haarsträhne aus dem Gesicht streichen, eine lang ersehnte Umarmung, Händchenhalten und Füßeln, der erste Kuss…
Aber auch im negativen Sinne: das Händeschütteln des Vorgesetzten dauert zu lang, Arztbesuche (man denke nur an den Zahnarzt, Proktologe oder Gynäkologe, an Katheter und Darmuntersuchungen), an schmerzhaften Stellen, an intimen Stellen, ungewollte berührt zu werden usw. Oder eben wir aktuell in der Corona Zeit: nicht berührt werden.
Wenn wir jetzt nicht von den extremen Situationen ausgehen, liegt die Bewertung ob die Berührung positiv oder negativ ist oft im Detail. Das kann sein die Atmosphäre im Raum, die Worte und die Körpersprache des Gegenüber, die Geschwindigkeit und Dauer usw.
Beispiel Blutabnehmen:
Angenommen Ihnen wird Blut abgenommen. Nun sitzen Sie in einem sterilen kalten Durchgangszimmer und müssen darauf warten. Sie spüren die Hektik der Mitarbeiter. Sie hören, wie sich dauernd was zurufen und das Telefon andauernd klingelt. Gleich wird ein Loch durch ihre Haut gebohrt bis in die Ader rein. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass das beim ersten Mal nicht geklappt hat. Schon das Abbinden des Armes löst bei Ihnen einen Fluchtreflex aus. Und wenn dann noch dieser Geruch nach Desinfektionsmittel und Eisen nicht wäre… Sie wissen es ganz genau: Das wird sowas von weh tun!
Doch dann kommt da dieser sympathische Krankenpfleger, hat einen flotten Spruch auf den Lippen und bringt Sie zum Lachen. Er schließt die Türen und ist nur für Sie da. Er erkundigt sich nach Ihrem Empfinden und reicht Ihnen ein Glas Wasser. Alles hat er perfekt vorbereitet und wartet jetzt respektvoll, bis sie Ihren Pulli hochgeschoben haben und Ihm ihre Ellenbeuge präsentieren. Statt jetzt sofort die Kanüle reinzujagen, quatscht er fröhlich weiter, gibt Ihnen die Möglichkeit Ihren Arm abzulegen, geht in den Blickkontakt und holt sich so die nonverbale Erlaubnis Sie zu berühren…
Wird das jetzt wirklich so unangenehm und schmerzhaft wie anfangs angenommen?
Berührung als Mittel der Assistenz
Menschen mit einer komplexen Beeinträchtigung verfügen meist nicht über die Fähigkeiten sich differenziert zu bewegen. Die sind auf viele Hilfe und Assistenz angewiesen und benötigen unterschiedlichste Hilfsmittel. Ihre Privatsphäre und auch ihr Intimbereich ist wesentlich reduzierter, zugänglicher und offener als bei jeder anderen Menschengruppe, vielleicht vergleichbar mit Babys.
Was hat diese Zielgruppe und so gut wie alle Aktivitäten gemeinsam? Etwa in der:
- Grund- und Behandlungspflege
- Umpositionieren, Mobilisieren und Transfer
- Nahrungszufuhr, orale Stimulation
- Wahrnehmungsangebote, Förderung und Beschäftigung
- Physiotherapie, Bewegungsanregung, Bewegungswahrnehmung
- Usw.
Ganz klar: die Berührung!
Wo ist der Unterschied zwischen Anfassen und Berühren?
Seine Hand auf etwas legen ist ein Anfassen. Geht es um Menschen die uns wichtig sind, dann wollen wir aber berühren. Wir wollen nicht nur Kontakt zur Haut des anderen. Nein, wir wollen den Menschen dahinter richtig Berühren. Wir wollen ihn als Person wertschätzend und respektvoll berühren, seine Seele quasi. Das Berühren geht viel weiter als das bloße Anfassen.
Warum braucht man Berührungen zum Wahrnehmen?
Die Haut ist nicht nur unser größtes Organ, sondern auch unsere Körperhülle. In ihr liegen tausende Rezeptoren und warten nur auf Input. Damit ist es die absolute Nummer eins der Wahrnehmung. Doch nicht nur der Außenwelt, sondern vor allem uns selber. Dazu fassen wir uns ganz oft selbst an. Beim Nachdenken oft im Gesicht, bei Nervosität die Beine, beim Verliebtsein die Haare und die Lippen, bei Schmerzen die entsprechende Stelle usw. Mein Finger etwa ist rund und so lang, er hat hier harte und da weiche Komponenten, so fühlt es sich an, wenn man die Haut etwas verschiebt, soweit geht die Bewegung im Gelenk und dann fühlt sich das so und so an… Können wir uns gerade nicht selbst berühren, dann weichen wir oft auf andere Wahrnehmungsquellen aus, um uns zu spüren wie anschauen oder bewegen. Daher ist Schachspielen mit Mund-Nasen-Schutz nicht empfehlenswert 😊
Um meine Umwelt wahrnehmen zu können ist die Basis dazu wiederum die Berührung.
Wir berühren uns dauernd, fassen uns selbst an, suchen den Kontakt mit anderen, fühlen verschiedenste Materialien usw. Doch was ist, wenn wir dies selbst nicht können?
Dann brauchen wir:
- Jemanden, der mit uns eine körperliche Nähe herstellt, damit wir wahrnehmen können.
- Mitmenschen, welche uns auch ohne (Verbal-)Sprache verstehen und sich auf unsere individuellen Ausdrucksmöglichkeiten einstellen.
- Assistenten, welche Fortbewegung und Lageveränderung für uns nachvollziehbar gestalten.
- Helfende, welche uns zuverlässig sowie fachlich kompetent versorgen, pflegen, fördern und begleiten.
Lieber Leser, Sie können sicher leicht nachvollziehen, dass es große Unterschiede in der Berührung gibt. Daher ist es durchaus sinnvoll sich mit diesem Thema noch viel intensiver auseinanderzusetzten.
Daher zunächst die Fragen: wie fängt man eigentlich mit dem Körperkontakt an? Welche Körperstellen eignen sich dafür? Wie leite ich eine Berührung ein?
Wie gestalten Sie Ihre Berührungen mit komplex beeinträchtigten Menschen? Auf was legen Sie den meisten Wert? Lassen Sie es mich wissen.
Herzlichst Ihre
Martina von basal-bewegt